Seit 20 Jahren veröffentlicht die Wirtschaftsauskunftei Creditreform Boniversum den SchuldnerAtlas (seit 2006 in der heute bekannten Form). Dieser liefert detaillierte Informationen zur Überschuldungslage von deutschen Verbrauchern. Zwischen 2019 und 2022 konnte man anhand der rückläufigen Zahlen von einer deutlichen Entspannung sprechen.
Auf den ersten Blick scheint sich dieser Trend auch 2023 fortzusetzen, denn die Zahl der überschuldeten Personen liegt laut SchuldnerAtlas bei 5,65 Millionen und damit 233.000 unter dem Vorjahr. Die Überschuldungsquote wird dabei mit 8,15 % beziffert, ein Rückgang um 0,33 %.
Da die Speicherdauer von Restschuldbefreiungen bzw. abgeschlossenen Privatinsolvenzen von drei Jahren auf sechs Monate verkürzt wurde (was eine Umstellung in der Statistik nötig machte), ergibt sich jedoch ein anderes Bild. 250.000 weitere Fälle hätten für eine Gesamtbetrachtung eigentlich berücksichtigt werden müssen, sodass sich insgesamt ein Plus von 17.000 Ãœberschuldungsfällen bei einer Quote von 8,51 % ergibt. Die Herausgeber sprechen von einer „verdeckten Trendumkehr“.
Trend zu einer steigenden Ãœberschuldungsquote
Neben den „echten“ Zahlen sprechen leider viele weitere Fakten dafür, dass sich die Lage eher verschärfen wird. Seit 2020 befindet sich die Welt in einem „multiplen Krisenmodus“. Corona, Klima, Ukraine und dazu noch die Lage in Nahost (Israel / Gaza) sorgen nicht nur politisch für große Herausforderungen.
Viele private Haushalte in Deutschland kämpfen mit steigenden Kosten, insbesondere für Wohnen, Energie und Lebensmittel. Wer zudem nur über ein geringes Einkommen verfügt, ist finanziell schnell an der Belastungsgrenze. Nachhaltige Zahlungsstörungen sind die Folge und münden häufig in einer handfesten Überschuldung.
Die meisten Schuldnerberatungsstellen im Land beobachten eine verstärkte Nachfrage und damit ein weiteres negatives Signal. Um Schuldnern schneller und bedarfsgerechter zu helfen, fordern manche Experte eine Erweiterung der Kapazitäten.
Für die Umkehr des Trends sprechen auch folgende Erkenntnisse aus dem SchuldnerAtlas 2023:
- Es gibt wieder mehr Fälle mit „weicher Ãœberschuldung“. Dazu zählt man Haushalte, die zwar noch keinen „Besuch“ vom Gerichtsvollzieher bekommen, aber mit Mahnungen und Inkassoschreiben kämpfen.
- Ratenkredite werden deutlich öfter für kleinere Beträge (unter 1.000,- Euro) aufgenommen.
Big Six – die Hauptauslöser für Ãœberschuldung
Die häufigsten Ursachen dafür, in die Schuldenfalle zu geraten, ähneln sich seit längerer Zeit:
- Arbeitslosigkeit
- Trennung, Scheidung, Tod
- Erkrankung, Sucht, Unfall
- Unwirtschaftliche Haushaltsführung
- Gescheiterte Selbstständigkeit
- Längerfristiges Niedrigeinkommen
In 2023 ist auffällig, dass die Niedrigeinkommen sehr viel häufiger als Grund für die finanziellen Probleme genannt werden.
Anstieg in der jüngsten Personengruppe – Altersarmut weiter alarmierend
Nach neun Rückgängen in Folge steigt die Überschuldung bei den privaten Verbrauchern, die unter 30 Jahre alt sind. Auch das kann man als weiteres Warnsignal bezeichnen.
Wie in den vorherigen Ausgaben des SchuldnerAtlas kann man bei älteren Personen keine Entwarnung geben. Die Altersarmut in Deutschland bewegt sich weiterhin auf einem besorgniserregenden Niveau.
Ausblick
Die Aussichten in der Wirtschaft sind eher trübe. Deutschland befindet sich in einer rezessiven Phase und ist laut „Weltwirtschaftsausblick“ des IWF im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften „Klassenletzter“.
Die Inflationsrate ist zwar nicht mehr so hoch, ist aber dennoch eine große Belastung für die Geldbeutel der Verbraucher. Betroffen sind nicht mehr nur Geringvediener, sondern vermehrt auch Personen mit einem normalen oder guten Einkommen. Höhere Zinsen könnten für private Haushalte (insbesondere für Immobilienbesitzer) zu einem weiteren Problem werden.
Zum Glück gibt es aber auch gute Nachrichten: Dank höherer Lohnabschlüsse kann man einen leichten Anstieg der Reallöhne beobachten.
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Oliver Schulz ist seit 2010 Rechtsanwalt und hat sich als Fachanwalt auf das Rechtsgebiet Insolvenzrecht spezialisiert. Mit seiner Kanzlei Schulz & Partner führt er seit 2012 die Schuldnerberatung Schulz, die in mehreren deutschen Städten ansässig ist und Schuldnern dabei hilft, ihre Schulden durch einen außergerichtlichen Vergleich, eine Regelinsolvenz oder eine Privatinsolvenz loszuwerden und finanziell neu durchzustarten. Er ist u.a. Mitglied im HAV (Hamburgischer Anwaltverein e.V.) und im Norddeutschen Insolvenzforum Hamburg e.V.. Als ausgewiesener Experte gibt er Interviews, z.B. bei RTL Direkt (zum Thema SchuldnerAtlas 2023). Außerdem ist er als Gastautor aktiv, z.B. auf Unternehmer.de.